Jeanne

Das ist Jeanne. Sie ist 12 Jahre alt und wohnt in einem kleinen Dorf etwas außerhalb von Bamako. Ich habe sie kennengelernt, als ich dort Missionare besuchte, die mir ihr Projekt zeigen wollten. Sie sind gerade dabei einen Kindergarten zu bauen und dafür die nötigen Mittel zu sammeln. 

Jeanne wohnt bei dem Pastorenehepaar des Dorfes. Sie geht zur Zeit nicht zur Schule, sondern hilft im Haushalt. Sie ist nicht das leibliche Kind, sondern die Tochter einer Tante der Pastorenehefrau. Jeanne wurde in ihre Obhut gegeben, als diese vor 2 Jahren geheiratet haben. Zwei Cousinen des Pastors leben ebenfalls mit ihnen. Letztes Jahr hat das Ehepaar ihr erstes Kind bekommen. In Mali ist diese Familienkonstellation keine Seltenheit. Kinder werden an Verwandte "weitergegeben" und wachsen dort auf. Die Verantwortung und teilweise auch das Mitbestimmungsrecht der Eltern wird somit an die Verwandtschaft abgetreten. Dies kann verschiedene Gründe haben. 

- Zum einen kann es daran liegen, dass die Eltern schlichtweg keine Mittel haben, um die Kinder zu versorgen. Die Häuser sind zu klein, um alle unterzubringen. Das Einkommen der Eltern reicht nicht um Essen, Kleidung und sonstiges für die Grundversorgung zu bezahlen. Ärmere Familien geben ihre Kinder somit an wohlhabendere Verwandte weiter. 

- Anderen tun dies als Zeichen des Respekts für ihre Verwandten. So habe ich von mehreren Fällen gehört, wo eines der Kinder z.B. bei den Großeltern aufwuchs.

- Stirbt die Mutter eines Kindes, bleibt dieses oft nicht beim Vater, sondern wächst bei der Verwandtschaft auf. Alleinerziehende Väter findet man hier also eher selten bis gar nicht. 

- In manchen Fällen bekommen Ehepaare, die selber keine Kinder kriegen können, das Kind eines Verwandten. Kinderlosigkeit ist in Mali eine große Qual und Schande für die Ehepaare. Zum einen spricht dies für Unfruchtbarkeit und man wird als Frau ohne Kinder nicht so hoch angesehen wie eine mit Kindern. Zum anderen ist die spätere Altersvorsorge des Paares nicht gewährleistet, da in der Regel die Kinder ihre Eltern versorgen und unterstützen. 

- Wenn ein Kind unehelich gezeugt und geboren wird, ist dies manchmal eine so große Schande für die Familie der Mutter, dass diese ihr Kind ebenfalls anderen Verwandten überlässt, um dem Gerede und der Schande zu entgehen. 

- In manchen Fällen leben Kinder auch nur bei ihren Verwandten, da diese dort zur Schule, Universität oder einer Arbeitsstelle gehen können. Einige Kinder aus Dörfern kommen so zu ihren Verwandten nach Bamako, um besser Bildungschancen zu haben.

Was für uns in Deutschland teilweise lieblos und unvorstellbar scheinen mag, ist hier weit verbreitet und akzeptiert. Die Definition von Familie ist viel weiter gefasst als bei uns. Zur engeren Familie gehören Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen genauso dazu wie die Eltern und die Geschwister. Somit bleibt das Kind in der Familie, nur eben nicht bei den leiblichen Eltern. Die Ersatzeltern behandeln die Kinder in der Regel wie ihre eigenen. Für manche Kinder ist dieser Wechsel somit eine Verbesserung, was ihre Versorgung, Bildung und Erziehung angeht. 

In Gesprächen über dieses Thema habe ich aber auch kritische Stimmen gehört und erfahren, welche Nachteile die Handhabung mit sich bringt. Es gibt z.B. Fälle, in denen die "weitergegebenen Kinder" als kostenlose Arbeitskraft gesehen und ausgenutzt werden. So berichtet mir eine Bekannte, dass ihre Cousine in Bamako arbeiten geht, das gesparte Geld aber von ihrer Tante im Dorf (in dessen Obhut sie gegeben wurde) einkassiert wird. 

Auch emotional ist dies nicht immer einfach zu verkraften. Ein Bekannter erzählt mir, dass er und seine jüngeren Geschwister sich von ihrem großen Bruder entfremdet fühlen, da dieser beim Großvater aufwuchs und sie nicht viel Kontakt hatten. Er bedauert dies sehr und wünscht sich, mehr Zeit mit ihm verbracht haben zu können. Er erzählt mir auch, wie schmerzhaft es für seine Mutter war, ihren Sohn abzugeben. Den Grund dafür kennt er selber nicht so genau. 

Ein junges Ehepaar erzählt mir, dass ihnen nach ihrer Hochzeit ein junges Mädchen aus der Verwandtschaft anvertraut wurde. Als sie dann ins Ausland umgezogen sind, musste das Mädchen zurück zu den Eltern. Für die Kleine war diese Trennung sehr schmerzhaft. Die Eltern wollte sie erst nicht zurücknehmen und sahen ihre Tochter bei dem jungen Ehepaar besser aufgehoben und versorgt, da sie selber über weniger Geld verfügen. 

Zurück zu Jeanne. Ihre Tante erklärt mir, dass Jeanne aus einer Großfamilie mit vielen Kindern stammt und sie deshalb zu ihnen kam. Sie versichert mir, dass man Jeanne demnächst zur Schule schicken möchte. Was sie später mal machen möchte, kann Jeanne mir nicht genau sagen. "Vielleicht Schneiderin" sagt sie mir. Sie möchte aber auf jeden Fall in Bamako leben und nicht mehr im Dorf.

(Fotos: Jeanne / Jeanne beim Wasser holen am einzigen Wasserhahn im Dorf/ Jeanne beim Geschirr waschen)




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